Die bedeutendste Theoretikerin der neuen Frauenbewegung war die französische Schriftstellerin, Existenzialistin und Marxistin Simone de Beauvoir (19081986). Sie deutete die traditionell passive Rolle der Frau in der Gesellschaft als Ergebnis einer Entwicklung patriarchalischer Strukturen und forderte deren Veränderung mit dem Ziel einer Selbstverwirklichung der Frau. Außer in der Frauenbewegung engagierte sie sich auch gegen die Kriege in Algerien und Vietnam.
Simone de Beauvoir kam am 9. Januar 1908 als Tochter eines Anwalts und einer Bibliothekarin in Paris zur Welt. In der französischen Hauptstadt besuchte das wohlbehütete Mädchen die private höhere Mädchenschule Institut normal catholique Adelina-Desir. Später wurde sie in Neuilly-sur-Seine an der Institution Sainte-Marie unterrichtet. Mit 15 Jahren schrieb sie einer Freundin ins Poesie-Album: Ich will eine berühmte Schriftstellerin werden.
Ab 1925 studierte Simone de Beauvoir Philosophie an der Faculté des lettres der Pariser Sorbonne. Seit dieser Zeit begann sie sich gegen die hohlen Worte und die heuchlerische Moral ihrer Gesellschaftskreise aufzulehnen. 1929 legte sie an der Sorbonne ihr Diplom als Agrégée der Philosophie (Staatsexamen für den höheren Schuldienst) und als Licenciée dés lettres (Lehrbefugnis für Collège) ab.
Die 21-jährige Simone de Beauvoir lernte 1929 den französischen Philosophen und Schriftsteller Jean-Paul Sartre (19051980) kennen. Sie war fasziniert von seinem Ruf, er würde nie aufhören zu denken, und wurde seine Schülerin und Lebensgefährtin. Später verriet sie, er sei der erste Mann gewesen, mit dem sie schlief. Doch sexuell habe dies vor allem seinetwegen wenig gebracht. Sartre sei ein hitziger, quicklebendiger Mann , überall, außer im Bett, gewesen.
1931/1932 arbeitete Simone de Beauvoir als Lehrerin am Lyzée Montgrand in der südfranzösischen Hafenstadt Marseille. Von 1933 bis 1937 unterrichtete sie am Lyzée Jeanne dArc in Rouen und von 1938 bis 1943 in Paris am Lyzeé Molière und am Lycée Camille-Sée. Zur Zeit der Vichy-Regierung wurde sie 1943 als Lehrerin entlassen und schriftstellerisch aktiv.
Simone de Beauvoirs Leben und ihre Schriftstellerei sind entscheidend durch Jean-Paul Sartre geprägt worden. In ihrem ersten Memoirenband Mémoires dune jeune fille rangée (1958, deutsch: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, 1960) schilderte sie ihre Entwicklung bis zur Zeit der Begegnung mit Sartre. Demnach fühlte sie lange Zeit nirgends Verständnis für ihre Ablehnung jeder mittelmäßigen Existenz. Erst mit Aufnahme ihrer Lehrtätigkeit fand sie Sicherheit.
Nach Ansicht von Kritikern entwickelte sich Simone de Beauvoir durch ihre schriftstellerischen Arbeiten zu einer der führenden Repräsentantinnen des französischen Existentialisten-Kreises. Dieser Tatsache verdankt sie den Ehrentitel Hohepriesterin des Existenzialismus.
In den 1940-er Jahren verfasste Simone de Beauvoir unter anderem die Romane LInvitée (Sie kam und blieb, 1943), Le Sang des autres (Das Blut der anderen, 1944), Der Gast (1945), Alle Menschen sind sterblich (1947), die philosophischen Schriften Pyrrhus und Cinéas (1944) und die Moral der Zweideutigkeiten (1947) sowie das Schauspiel Les Bouches inutiles (1945, deutsch: Unnütze Mäuler).
1945 gründete Jean-Paul Sartre die Zeitschrift Les temps modernes. Die einzige Frau in der Redaktion war Simone de Beauvoir. Am Schreiben von Artikeln für diese Zeitschrift schätzte sie besonders, dass man dabei im Gegensatz zu einem Buch die Aktualität im Flug fangen konnte. Fast nebenbei stieß sie auf das Thema Unterdrückung der Frau.
Bei ihrer ersten Tournee in den USA begegnete die 39-jährige Simone de Beauvoir 1947 dem ein Jahr jüngeren und einen Kopf größeren amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren (19091981). Ihm verdankte sie, wie sie später ihrer Biographin Deirde Bair anvertraute, den ersten Orgasmus ihres Lebens. Von der Liebe der Feministin zu dem Macho zeugen 304 Briefe Simones, die 1997 in dem Buch Lettres á Nelson Algren. Un amour transatlantique 19471964 veröffentlicht wurden.
Simone de Beauvoir versprach ihrem Geliebten Nelson Algren, mit dem sie drei Jahre auf Reisen persönlich und insgesamt 17 Jahre brieflich verkehrte, treu zu sein wie eine Frau, den Boden zu wischen und Essen zu kochen und zehn Mal in der Nacht und ebenso oft am Tag mit ihm Liebe zu machen. Damals verfasste sie gerade das Manuskript für die Jahrhundertanalyse zur Benennung und Befreiung der Frauen mit dem Titel Das andere Geschlecht.
Nach einer der vielen Reisen Simone de Beauvoirs ist ihr Buch LAmerique au jour le jour (1947, deutsch: Amerika Tag und Nacht, 1948) entstanden. Dieser Titel erregte in den USA wegen seiner marxistischen und antiamerikanischen Note erhebliches Aufsehen. Das Werk hatte sie dem Amerikaner Richard Wright (19081960), der als einer der profiliertesten schwarzen Autoren des 20. Jahrhunderts gilt, gewidmet.
Die Bücher Le deuxième Sexe (1949, deutsch: Das andere Geschlecht, 1951) und Les Mandarins (1954, deutsch: Die Mandarine von Paris, 1955) aus der Feder Simone de Beauvoirs wurden von der katholischen Kirche auf den Index gesetzt.
In dem Werk Le deuxième Sexe zog Simone de Beauvoir zwei Schlussfolgerungen: Einerseits vertrat sie die Auffassung, in der patriarchalischen Gesellschaft werde die Frau als das Andere definiert, während der Mann die Norm sei, an der sich die Frau zu messen habe. Anderseits meinte sie, Weiblichkeit sei keine angeborene Wesensqualität. Man komme nicht als Frau zur Welt, sondern werde es.
In Les Mandarins gab Simone de Beauvoir ein Sittenbild der linkssozialistischen Kreise um Sartre und Albert Camus (19131960) sowie ihrer Desillusionierung nach dem Zweiten Weltkrieg. 1953 vertrat sie auch offiziell marxistische Positionen.
Nach einer Chinareise mit Jean-Paul Sartre im Herbst 1956 schrieb Simone de Beauvoir das Buch La Longue Marche (1967, deutsch: China, das weitgesteckte Ziel, 1959), das zwar umstritten blieb, aber wegen seines mitreißenden Stils gelobt wurde. Bei ihren Reisen wurde sie zum Teil von Claude Lanzmann begleitet, mit dem sie einige Jahre liiert war.
Der zweite Memoirenband Simone de Beauvoirs hieß La Force de lâge (1960, deutsch: In den besten Jahren, 1961), und ihr dritter hatte den Titel La Force des choses (1963, deutsch: Der Lauf der Dinge, 1966). Eine detaillierte und grausame Schilderung über das Sterben ihrer Mutter lieferte sie in Une mort trés douce (1964, deutsch: Ein sanfter Tod, 1965). Schonungslos und ehrlich waren auch ihre Bücher Eine gebrochene Frau (1968) und La Vieillesse (1972, deutsch: Das Alter). 1972 kam ihrer vierter Memoirenband Tout Compte fait (Alles in allem) heraus, in dem sie über ihre politischen Enttäuschungen mit kommunistischen Ländern berichtet.
Von 1970 an engagierte sich Simone de Beauvoir in der Frauenbewegung. Im Frühjahr 1971 beteiligte sie sich an der Aktion Jai avortee (deutsch: Ich habe abgetrieben), die von 343 Frauen unterschrieben und im Nouvel Observateur veröffentlicht wurde. Zusammen mit einer kleinen Frauengruppe redigierte sie die Frauenseite der Zeitschrift Les temps modernes und betreute die Rubrik sexismus ordinaire (der alltägliche Sexismus).
Simone de Beauvoir lehnte jeglichen Glauben an eine Natur der Frau kategorisch ab und warnte immer wieder vor der Falle der Ehe und Mutterschaft. Nach ihrer Ansicht klammerten sich Frauen viel zu sehr an ihre Mütterlichkeit. Sie meinte, jede Frau sei ein bißchen homosexuell, weil Frauen begehrenswerter seien als Männer.
Nach der Gründung der Liga für Frauenrechte 1974 leitete sie diese als Präsidentin. Am 14. April 1986 starb Simone de Beauvoir im Alter von 78 Jahren in Paris. Kurz vor ihrem Tod hatte sie noch der Sozialistischen Partei beim Wahlkampf ihre Unterstützung versprochen.
Diese Biografie stammt aus der Taschenbuchreihe „Superfrauen“ des Verlags Ernst Probst (www.frauenbiografien.de.vu).