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Autor Mitteilung
Weißer Wolf
Senior-Mitglied

Beiträge: 463


 

Gesendet: 23:38 - 10.09.2004

Kehrtwende der Planer

In Görlitz wird eine neue "Charta für europäischen Urbanismus" beschlossen

von Dankwart Guratzsch

Görlitz - Europas Städtebau - und damit die gesamte städtische Zivilisation der Alten Welt - durchlebt eine fundamentale Krise, wie sie seit der Großstadtwerdung im 19. Jahrhundert nicht aufgetreten ist. Wertmaßstäbe des Wohnens und Zusammenlebens befinden sich in einem tief greifenden Umbruch. Bevölkerungsschwund, Wanderungsbewegungen und Deindustrialisierung führen zur Entvölkerung ganzer Regionen. Gleichzeitig ist die Akzeptanz "moderner" Gestaltungsweisen in Architektur und Städtebau auf einen Tiefpunkt gesunken.


Dies ist die Situation, in der 80 Planer, Architekten und Kommunalvertreter die Initiative zur Gründung eines Council for European Urbanism-Deutschland (C.E.U.-D.) ergriffen haben. Er will sich "dem Wohl der gegenwärtigen und zukünftiger Generationen" widmen, indem er "lebenswerte Regionen, Städte und Dörfer sowie die Eigenart des ländlichen Raumes in Europa fördert". Die sehr allgemein gehaltenen Grundsätze, die der Initiative eine breite Basis in der Öffentlichkeit verschaffen sollen, wurden auf einem feierlichen Gründungskongress in Görlitz mit Unterschrift und Sekt verabschiedet.


"Regionen, Städte und Dörfer werden durch soziale Ausgrenzung und Isolierung, Zersiedelung, Vergeudung von Boden und kulturellen Ressourcen, durch monofunktionale Entwicklung, fehlenden Wettbewerb und den mangelnden Respekt für lokale und regionale Kulturen zerstört," heißt es in der neuen "Charta", die sich mit ihrem Namen bewusst in die Tradition der Charta von Athen (1934), des Evangeliums modernen Städtebaus, stellt. Zugleich aber bedeutet sie eine Kehrtwende um 180 Grad. Denn nun soll mit der Trennung der Funktionen Wohnen, Arbeiten, Erholen, für die sich einst der "Vater" der Athener Charta, Le Corbusier, stark gemacht hatte, Schluss gemacht werden. Stattdessen setzt sich die neue Charta für "gemischte Arbeits-, Wohn- und Freizeitstätten" ein. "Bloße Schlafstädte" soll es nicht mehr geben.


Recht moderat, aber in der Tendenz unverhohlen kritisch, geht die Görlitzer Charta mit den "Gebieten des industriellen Massenwohnungsbaus" um. Sie müssten "umgebaut" werden - eine eher beschönigende Floskel gegenüber der in weiten Regionen unabweisbaren Notwendigkeit, sie abzureißen. Die Charta sagt es sozusagen durch die Blume: "Innenentwicklung" müsse vor Außenentwicklung gehen. Den "peripheren Ausdehnungen der Städte und Orte" wird der Kampf angesagt.


Neu - und kontrovers gegenüber dem Städtebau der voraussetzungslosen Moderne - ist das Beharren auf dem historischen Bild und den sozialen Traditionen der Städte und Dörfer. Hier eignen sich die Architekten das Vokabular der Denkmalpflege an: Die Innenstädte und Dorfkerne sollten "bewahrt und behutsam erneuert werden". Le Corbusiers Flächensanierung, Ernst Mays "Auflösung" der Städte gehören für die Unterzeichner endgültig der Vergangenheit an. Nicht "globale", nivellierende Architekturstile, sondern regionale Traditionen des Bauens und Gestaltens sollen bewusst aufgegriffen und weiterentwickelt werden.


In den wirtschaftspolitischen Paragrafen der Charta vertreten die Unterzeichner die Prinzipien einer "regionale Kreislaufwirtschaft". Vor allem wollen sie auf diese Weise die ruinöse Konkurrenz der Städte um Gewerbegebiete und Eigenheimkolonien in den Griff bekommen: "Die Erlöse, Ressourcen und Kosten sollten zwischen den Gemeinden und Kommunen innerhalb der Regionen in kooperativer Weise geteilt werden, so dass der zerstörerische Wettkampf um steuerliche Einnahmen vermieden und die sachgerechte Koordination von Verkehr, Erholung, öffentlichen Diensten, Wohnungsbau und kommunalen Einrichtungen gefördert wird."


In den verkehrspolitischen Passagen bekennt sich die Charta zum traditionellen Bild der europäischen Stadt der kurzen Wege, der Nutzungsmischung und der hohen Baudichten. Nur so könne der öffentliche Personennahverkehr wieder zu einer "echten Alternative zum Auto" werden. Einrichtungen der sozialen Infrastruktur - Schulen, Kindergärten, Ämter - müssten so angesiedelt und integriert werden, dass sie fußläufig oder mit dem Fahrrad erreichbar sind. In der Flächennutzungsplanung müsse der Tendenz entgegengesteuert werden, dass Autobahnkorridore Investitionen aus den städtischen Zentren weglocken.


Für die Architektur der Neubauten verlangen die Unterzeichner eine respektvolle Haltung gegenüber dem städtischen Kontext. Sie müsse dem örtlichen Klima, der örtlichen Topografie, der Baukultur und Geschichte Rechnung tragen. In die öffentliche Debatte über "ökologische Bauformen" mischt sich die Charta mit dem Plädoyer für "ressourceneffektive, möglichst an regenerativen Systemen orientierte Technologien" in allen Belangen der Heiz- und Kühltechnik ein.


So idealistisch diese Zielsetzungen klingen, so nachhaltig können sie wirksam werden. Die Charta von Athen, die zuerst gleichfalls nicht mehr als ein Papier war, hat trotz ihrer Entstehungszeit in dem bis dahin furchtbarsten aller Kriege für fast ein halbes Jahrhundert unbeschränkte Gültigkeit erlangt.


Artikel erschienen am Sa, 11. September 2004


Quelle: http://www.welt.de/data/2004/09/11/330670.html?s=1


Weißer Wolf
Senior-Mitglied

Beiträge: 463


 

Gesendet: 01:26 - 16.09.2004

Schulen und Krankenhäuser werden unbezahlbar

Rückbau beschleunigt sich selber: Wenn der zivilisatorische Unterbau wegbricht, blutet der "Speckgürtel" aus

von Dankwart Guratzsch


Berlin - Auch wenn es den Ideologen des "aufgelockerten" Städtebaus nicht ins Konzept passt: Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass diese seit 80 Jahren propagierte Siedlungsform in Zeiten der Schrumpfung, des rapiden Bevölkerungsrückgangs und der Deindustrialisierung nicht überlebensfähig ist. Als Gradmesser dafür erweist sich die städtische Infrastruktur, die bei fortschreitender Ausdünnung der Siedlungsstrukturen unbezahlbar wird.

Es war das Landesamt für Bauen, Verkehr und Straßenwesen (LBVS) des Landes Brandenburg, das als erstes staatliches Institut schon vor drei Jahren auf die Konsequenzen hingewiesen hatte, die aus dem Abriss ganzer Siedlungskomplexe für die Unterhaltung und Bezahlbarkeit der technischen Infrastruktur - Leitungsnetze, Straßenbau, Schienennetze - entstehen. Jetzt hat dasselbe Landesamt die Auswirkungen auf die soziale Infrastruktur zur Diskussion gestellt. Die Bilanz fällt ähnlich niederschmetternd aus: Die mit der Schrumpfung der Bevölkerung verbundene Schließung von Schulen, Kindertagesstätten, Verwaltungs- und Sozialeinrichtungen beeinträchtigt die Lebensqualität in betroffenen "locker" bebauten und durch Perforation immer weiter ausgedünnten Stadtteilen so sehr, dass sie den Abwanderungsprozess zusätzlich beschleunigt und den städtischen Außenbezirken zuletzt die Lebensfähigkeit entzieht.

Referatsleiter Schweinberger aus dem MSWV in Potsdam machte eine einfache Rechnung auf: Wenn sich die Zahl der Schüler, wie für Brandenburg berechnet, in zehn bis 15 Jahren halbiert, muss jede zweite Schule dichtmachen, was zu längeren Schulwegen, teuren Fahrdiensten, hohem Zeitverlust, zusätzlicher Beanspruchung der Schüler und erhöhten Kosten für die betroffenen Familien führt. Schon heute dehnen sich die Schuleinzugsbereiche für Grundschulen in Brandenburg auf 65 Quadratkilometer (zum Vergleich: Mecklenburg-Vorpommern 54, Schleswig-Holstein 32 qkm). Und ein Ende der Ausweitung ist nicht abzusehen. Vorhandene Einrichtungen verzeichnen dramatische Einbrüche bei den Benutzerzahlen. In Frankfurt/Oder ging die Zahl der Schüler von 15 000 (1995) auf 7400 zurück. Bis 2010 wird sie auf 5360 fallen. In Guben sinkt der Bedarf an Kitaplätzen von 2800 auf 550. Aber die Fachleute sehen damit das Ende der Fahnenstange noch längst nicht erreicht. Nach einem Geburtenrückgang um zwei Drittel erwartet Fachbereichsleiter Speichert aus Guben den zweiten Schub um 2040 - "wenn die Frauen fehlen, die heute nicht geboren werden".

Die Entwicklung bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Stadtstruktur. Zunächst - so Prof. Rainer Winkel (TU Dresden) - wird sich die Schieflage der Gemeindefinanzen noch verstärken. Denn die Mindereinnahmen durch Einwohnerschwund schlagen fünf- bis sechsmal so hoch wie die Entlastung zu Buche. Die Schlussfolgerung der Politik lautet daher nicht, unrentable Einrichtungen in Randlage zu erhalten, sondern die finanziellen Mittel auf die Stadtmitte mit ihren kurzen Wegen zu konzentrieren. Schweinberger: "Das Ministerium will die Städte bei der Stärkung der Innenstadtkerne unterstützen."

Bei dieser Strategie hat Schweinberger das Landesamt auf seiner Seite. Wenn, so LBVS-Projektleiter Freudenberg, die Bevölkerung in den neuen Ländern um 26 Prozent schrumpft, ist der gesamte zivilisatorische Unterbau betroffen: neben Bildungsstätten sind es die Sportanlagen und -vereine, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, Gesundheitsdienste (Krankenhäuser) und Sozialstationen sowie die Verwaltung mit ihren Behörden. Verschärfend wirkt, dass sich die Folgewirkungen potenzieren. Für Stadtrandbewohner wird es immer "unbequemer", in der Abnabelung von den Zivilisationsgütern wohnen zu bleiben, zumal mittelfristig auch öffentliche Verkehrsmittel und Straßenbau um Einschränkungen nicht herum kommen. Siedlungen im Weichbild (Speckgürtel) der Städte verlieren ihre Attraktivität. Der "Speck" wird ranzig.

Auch Freudenberg riet den Kommunen, "jede Gelegenheit zur Stärkung des Stadtzentrums zu nutzen", das zu einer Art "Rückzugsgebiet" für die Stadtrandflüchtlinge werde. Vertreter der Grenzstädte Frankfurt/Oder und Guben plädierten für die Bündelung von Nutzungen unter einem Dach: Die Schule nimmt zusätzlich den Kindergarten und den Altentreff auf, im Keller des Rathauses lässt der Schützenverein die Büchsen knallen. Beispiele intelligenter Umnutzungen leerstehender Gebäude kann die Halbstadt Guben im halben Dutzend vorweisen: Kitas wurden zur Werkstatt für Behinderte, zur Tagesklinik für psychisch Kranke, zum Asylantenheim, zum deutsch-slawischen Kulturzentrum, zum Lehrlingsheim oder zum Reihenhaus mit Eigentumswohnungen. Weitere Pionierprojekte wie Haus der Vereine oder "Energieinsel" sind im Gespräch. Noch stehen fünf der einst 30 Einrichtungen leer, drei von ihnen sind zum Abbruch bestimmt, die Umnutzung von Plattenbauten gestaltet sich schwieriger und deutlich kostenintensiver als die der Altbauimmobilien, unter denen prachtvolle Villen der Gründerzeit die Erinnerung an die Glanzzeit Gubens und an seine reichen Fabrikherren bewahren.

Die Kommunen sehen sich unter Handlungsdruck. "Je später sie reagieren, desto teurer wird es", mahnte in Frankfurt/Oder TU-Professor Winkel. Um längere Leerstände zu vermeiden, sollen nicht mehr benötigte Gebäude vermehrt an Gruppen zur Nutzung weitergegeben werden. In Senftenberg sucht man "andere private Träger" und will mit der Entlassung von Einrichtungen in größere Selbstständigkeit experimentieren. Das schwer gebeutelte Eisenhüttenstadt ruft nach Fördermitteln für kostenlosen Rückbau.

Kehraus ist angesagt, und der Appell der Veranstalter an die Kommunalvertreter, im Rückbau auch Chancen der Qualitätsanhebung zu sehen, klang verdächtig nach lautem Singen im Keller. Nur über die Kardinalfrage wollte am Ende keiner mehr streiten: Die beschönigend "Anpassung der sozialen Infrastruktur" genannte Strategie wird zu einer "Kernaufgabe des Stadtumbaus". Hier ist der Osten dem Westen um Längen voraus. Als in Düsseldorf vor anderthalb Jahren Kommunalvertreter über die Zukunft des luxuriösen Netzes der Sozialinstitute in Zeiten der Schrumpfung debattierten, schwelgten sie noch in der Vorstellung, dass alles - Schulen, Bibliotheken, Kindergärten, Bäder, Bürgerhäuser - trotz voraussehbarem Bevölkerungsschwund von 20 Prozent gehalten werden kann; man müsse nur "Verknüpfungen" herstellen und vor allem: das ehrenamtliche Engagement der Mitbürger und die Hilfsbereitschaft von Stiftungen einfordern. Erfahrungen des Ostens einzuholen, hatte man tunlichst vermieden.


Artikel erschienen am Do, 16. September 2004


Quelle: http://www.welt.de/data/2004/09/16/332815.html?s=1


Dirk1975
Moderator

Beiträge: 435


 

Gesendet: 15:50 - 17.09.2004

Beitrag von Weißer Wolf:

Träume von Wolkenkuckucksheimen

Wie sich der Architektentag 2004 in Nordrhein-Westfalen an den Problemen des Stadtumbaus vorbeimogelt

von Dankwart Guratzsch

Düsseldorf - Gesucht wurde nach der "Zukunft der Stadt" in Zeiten von Verschuldung, Bevölkerungsschwund und Leerstand. Geträumt wurde von der "Aufwertung der Innenstädte", "mehr Lebensqualität", Verdichtung und Baulückenschließung, "Freiraumkonzepten und neuen Erlebnisräumen", Urbanität und Schonung der Landschaft. Die Architektenkammer NRW wollte auf ihrem "Architektentag 2004" ausloten, was auf die Kommunen, die Bauwirtschaft und den Berufsstand der Baugestalter nach den nordrhein-westfälischen Kommunal- und Landtagswahlen zukommt, und hatte deshalb auch Kommunal- und Landtagspolitiker in die Düsseldorfer Rheinterrassen geladen, die sich den Architekten "stellen" sollten.


Es wurde eine Geisterdebatte. Denn auf den Realitätsgehalt des Wunschzettels und der Referate schien es nicht so sehr anzukommen. Um ja nicht zu sehr in die Leerstandsdebatte hineingezogen zu werden (die ihre Schatten in Städten wie Essen, Hagen und Gelsenkirchen vorauswirft), hatte man vorsorglich darauf verzichtet, Referenten aus Problemzonen des Ruhrgebiets, Norddeutschlands und erst recht des Ostens einzuladen. Gut gelaunte Theoretiker des planerischen Gemischtwarenladens seligen Angedenkens, wie sie im "Boomland" Baden-Württemberg noch aufzutreiben sind, servierten stattdessen das Komplettangebot eines noch vorwiegend am Neubau orientierten Stadtwachstums nach innen, nach außen, ins Grüne und in die Mitte, dass man ins Schwelgen geraten konnte. Den Rest besorgte eine Moderatorin, die ununterbrochen zum Klatschen aufforderte. Da war man dem Kabarett näher als der Sachdebatte.


Als "Modellstädte" wurden Dortmund und Köln präsentiert, die sich sofort selbst als "untypisch" einstuften. Ullrich Sierau, Dortmunds Planungsdezernent, feierte die Dortmunder City als "viertbegehrtesten Platz in Deutschland", gleich hinter Köln, Frankfurt und München. Dass er vergaß, auf die bekannten Leerstands- und Sanierungsprobleme der Dortmunder Großsiedlungen einzugehen, fiel im bestellten Applaus unter den Tisch und hätte auch nur die Stimmung verdorben.


Ohnehin musste Dortmund aufpassen, dass es auf dem Architektentreff nicht noch von Köln ausgestochen wurde. Das rosafarbene Stadtporträt der beschädigt aus dem Wiederaufbau hervorgegangenen Domstadt entrollte die Leiterin des Planungsamtes, Anneliese Müller: "Bis 2015 ist uns ein Anstieg der Bevölkerung prophezeit." 50 000 Wohneinheiten sind fertig oder im Bau - am Mülheimer Hafen, auf Kasernen- und Bahngeländen, als Flickenteppich in "Ergänzung" zur Innenstadt oder aber irgendwo am Rand. Aber was ist mit "Stadtumbau", mit dem in Sonntagsreden geforderten "Bauen im Bestand", mit Chorweiler oder aber dem grassierenden Leerstand in citynahen Einkaufscentern? Der Referentin war es keinen Nebensatz wert - und niemand wollte es wissen.


"Die demografische Entwicklung sieht doch ganz anders aus", platzte einem Graukopf der Kragen, "wir erreichen einen Zustand, dass wir bald nicht mehr unsere Infrastruktur bezahlen können." Da blitzte für kurz Ehrlichkeit auf. Müller: "Dafür haben wir im Moment keine Lösung." Und so waren Problemscheu und Ratlosigkeit der Architekten und Planer vielleicht die signifikantesten Botschaften dieses Architektentages.


Keiner brachte es so präzis auf den Punkt wie Gastredner Meinhard von Gerkan, der Hamburger Großarchitekt und Braunschweiger Professor, der bezeichnenderweise den einzigen "echten", langanhalten Beifall erhielt, was selbst die eloquente Moderatorin für Augenblicke fassungslos machte. Und was war seine Aussage? "Diejenigen Städte, " so von Gerkan am Beispiel von New York, "die in allen Punkten am schlechtesten abschneiden: Höchstmieten, Kriminalisierung des öffentlichen Verkehrs, Schlaglöcher, mangelnde Hygiene, fehlende Kinderspielplätze, das eigene Auto mehr Last als Lust - gerade sie sind am begehrtesten und erleben ständigen Zuwachs. Das ist rational nicht zu erklären."

Dem Stadtumbau, so ließe sich schlussfolgern, müsste in Deutschland erst einmal der Umbau einer Planungs- und Gestaltungsphilosophie vorausgehen, die nach heute verbreiteter Einsicht in 80 Jahren mehr kaputt gemacht hat als der Krieg. Von Gerkans Beispiele - die "gänzlich antiurbane autogerechte Stadt", Zersiedlung der Stadtränder, architektonischer Müll - könnten Ansatzpunkte einer Aufarbeitung sein, die auf "Architektentagen" beginnen müsste. Aber davon ist die Zunft, wie Düsseldorf gezeigt hat, wohl noch Äonen entfernt.


Artikel erschienen am 9. Juli 2004

Quelle: http://www.welt.de/data/2004/07/09/302573.html?s=1




Weißer Wolf
Senior-Mitglied

Beiträge: 463


 

Gesendet: 20:02 - 18.09.2004

Wenn die Teekanne zum Wohnhaus wird

"Baut auf uns!" - Ein Schülerwettbewerb bringt junge Vorschläge für Städte und Siedlungen der Zukunft

von Dankwart Guratzsch

Berlin - Was sagen Kinder zur gebauten Umwelt, zu den Leistungen moderner Architekten, zu Städtebau und Raumordnung? Was haben sie für Wohnwünsche? Die Bausparkasse Schwäbisch Hall, das Deutsche Kinderhilfswerk und die Zeitschrift "Stern" wollten es wissen und haben einen mit 28 000 Euro dotierten Kinder- und Jugendwettbewerb "Baut auf uns!" ausgelobt. Heraus kam ein buntes Allerlei nach dem Motto, das der Dichter Kurt Tucholsky schon vor 80 Jahren ausgegeben hat: Vor dem Haus soll das Leben toben wie auf dem Kurfürstendamm, und hinten soll die Ostsee mit leisen Wellen an den Strand schlagen.


Manches erinnert an Puppenstube und Ankerbaukasten, anderes an Fernsehen und Feuilleton. Die einen wollen heruntergekommene Häuser in ein Malstudio und einen Naturschutzclub mit Schülerrestaurant umwandeln (Schülerzeitung "Ratzge" der Heidenheimer Berg-Grundschule, 1. Preis in der Kategorie der Klassen 1-4), die andern bauen auf die Gutmenschenparole: Kriegsbunker zu Wohnungen (Caritasverband Wuppertal, 1. Platz in der Kategorie der Klassen 10-13). Auch ein Vorschlag zur Sanierung von Schultoiletten wurde prämiert (Joseph-von-Eichendorff-Schule in Kassel, Sonderpreis Deutsches Kinderhilfswerk 10 000 Euro). Bei der Preisverleihung im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie rühmte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse das Engagement der rund 9000 Schüler als nachahmenswertes Beispiel für die "Bereitschaft, sich an politischen Prozessen zu beteiligen".


Fünf Wünsche tauchten nach Angaben der Auslober in den Beiträgen immer wieder auf:


- Geselliges Wohnen: Für das Zusammenleben von Jung und Alt unter einem Dach schlugen die Schulkinder großzügigere Wohnzimmer oder gemeinsame Gärten vor.


- Klare Orientierung: Städte in ihrer jetzigen Form wirken auf Kinder offensichtlich einschüchternd. Mit Leitsystemen und dem Einsatz von Farbe für Kennungen lösten die Teilnehmer dieses Problem.


- Angstfreies Leben: Schlecht ausgeleuchtete Plätze, düstere Ecken und triste Unterführungen bemängelten viele Kinder und Jugendliche. Zahlreiche Entwürfe beschäftigen sich mit einer besseren Ausleuchtung und freundlicheren Gestaltung.


- Grünere Städte: Einerseits wünschen sich die meisten Teilnehmer mehr Natur in den Städten. Mit erstaunlichem Realitätssinn versuchten sie, den Zwiespalt zwischen dem Wunsch nach mehr Grün und den Zwängen eines urbanen Lebens aufzulösen.


- Größere Freiheiten: Kinder wollen mehr Platz, und sie wollen ihn selbst gestalten. Standardlösungen lehnen sie ab. Deshalb spielt der Umbau von Brachflächen oder stillgelegten Fabrikgebäuden in Erlebnisräume in vielen Arbeiten die Hauptrolle.


Die Hilfsbereitschaft mancher Lehrer habe praktisch "keine Grenzen" gekannt, heißt es im Ergebnisbericht. Möglich, dass so mancher Beitrag dadurch inspiriert worden ist. Vielleicht ist es die Ratlosigkeit der Erwachsenen, die der Abwanderung, dem Bevölkerungsschwund, dem Leerstand, der Deindustrialisierung konzeptionslos gegenüberstehen. Vielleicht ist es das Versagen aller Bemühungen um "Baukultur" und Akzeptanz neuer Bauformen. Vielleicht auch einfach Beschäftigungstherapie: Aufs Ganze gesehen, zeugt der Wettbewerb mit den vielen Vätern wohl eher von der Verlegenheit, in die der Niedergang der Baubranche das Establishment der Republik versetzt. Eines freilich hätte man vorher wissen können: Konkrete Aufschlüsse über tatsächliche Wohnwünsche von Jugendlichen lassen sich auf diese Weise nicht ermitteln.


Wer darüber Genaueres erfahren will, der braucht sich nur die Motive anzusehen, die bei der "Abstimmung mit dem Möbelwagen" ausschlaggebend sind. Die führt nämlich vor allem bei den jungen Singles und Unabhängigen eindeutig in eine Richtung: in die dicht bebauten, lebensvollen Quartiere der Innenstädte. Davon zeugen sämtliche Universitätsstädte, insbesondere aber die frisch restaurierten Gründerzeitquartiere in den neuen Bundesländern. Merkwürdig: In den Beiträgen des Wettbewerbs kommt kein einziges Beispiel dieser Art vor.


Eins allerdings mag der Wettbewerb weit über den engsten Kreis der Teilnehmer hinaus tatsächlich bewirken: Er regt zur Beschäftigung mit den Zukunftsfragen des Bauens an. und das ist auch das Beste, was Pädagogik auf diesem Feld erreichen kann - auch wenn der Städtebau der Zukunft vielleicht ganz anders aussieht als die Wettbewerbsarbeiten zeigen.


Artikel erschienen am Sa, 18. September 2004


Quelle: http://www.welt.de/data/2004/09/18/333552.html?s=1
Jojojetz
registriert

Beiträge: 7


 

Gesendet: 03:15 - 09.10.2004

Wenn Städte schrumpfen, ist es wichtig, dass möglichst viele Menschen in ein lebhaftes Zentrum ziehen und die Außenbezirke in dem Maße zurückgebaut werden, wie sie in der Gründerzeit gewachsen sind. Andernfalls, wenn man das Zentrum ausdünnt und die riesigen Vorstädte erhält, hätte eine immer kleiner werdende Bevölkerung riesige Gebiete mit unnötig viel Straßennetz und Infrastruktur aufrecht zu erhalten, was zu einer Überbelastung und zum finanziellen Fiasko führen muß.

Daher war ich auch erstaunt als man mir 2003 in Dresden sagte, dass neue Gebiete in die Stadt eingemeindet wurden, denn richtigerweise müsste man in dieser Situation ausgemeinden. Die ehemaligen Vorstädte/Dörfer können meist ohnehin besser für sich selbst sorgen. Dass beim Rückbau der Städte wenn es möglich ist vorrangig die hässlichen Plattenbauten abzureißen sind, versteht sich von selbst. Die Innenstädte müssen dagegen gute Architektur erhalten und standhaft werden.

In Dresden, um auf mein Beispiel zurückzukommen, geschieht mit der Rekonstruktion des Neumarkts daher auch etwas sehr positives für das Zentrum, während man Außenbezirke, um einer ausgedünnten Überlastung vorzubeugen, aufgeben sollte. Die Gründerzeitbauten befinden sich oft nicht weit vom Stadtkern, weil die Städte in der Regel erst im 19. Jahrhundert über die Mauern hinauswuchsen, daher dürften viele ohnehin weniger gefährdet sein, wie auch etwa das große Gründerzeitviertel nördlich der Dresdner Altstadt.
Um den Trend des Bevölkerungsschwunds zu stoppen, wird Deutschland in einiger Zeit ohnehin eine Familienfreundlichere Politik einleiten müssen.

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