Zu den bedeutendsten Sozialdemokratinnen und Frauenrechtlerinnen Deutschlands während der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gehörte die Schriftstellerin und Politikerin Lily Braun (18651916), geborene von Kretschman. Neben Romanen und Dramen schrieb sie ihre zweibändigen Memoiren einer Sozialistin, die als wichtiges Zeugnis ihrer Zeit gelten.
Lily von Kretschman wurde am 2. Juli 1865 als Tochter des preußischen Generals Hans von Kretschman (18321899) in Halberstadt (Sachsen-Anhalt) geboren. Ihre Großmutter Jenny von Gustedt (18111890) war ein uneheliches Kind von Napoléons Bruder Jérôme Bonaparte (17841860) und der verheirateten Diana von Pappenheim (17881844). Jérôme regierte von 1807 bis 1813 das neugeschaffene Königreich Westfalen und ging als König Lustig in die Annalen der Geschichte ein.
In ihrer Jugend hetzte Lily von einer gesellschaftlichen Verpflichtung zur anderen. Erst durch den Einfluss ihrer Großmutter wurde ihr Blick von Äußerlichkeiten weg zu geistiger Betätigung gelenkt. Nach der Bearbeitung des schriftlichen Nachlasses ihrer Großmutter, die den deutschen Dichter Johann Wolfgang von Goethe (17491832) noch persönlich gekannt hatte und einen umfangreichen Briefwechsel hinterließ, unternahm Lily erste literarische Versuche.
Als Lilys Vater wegen kritischer Äußerungen über die Außenpolitik Napoléons in den Ruhestand versetzt wurde, zog die Familie 1890 nach Berlin. Dort lernte Lily 1891 den Professor für Philosophie und Publizisten, Georg von Gisycki (18511895), kennen, den sie 1893 heiratete. Ihr Mann war einer der Führer der Gesellschaft für ethische Kultur, für deren Zeitschrift Lily ihre ersten Aufsätze zu aktuellen Fragen der sozialistischen und der Frauenbewegung schrieb.
Obwohl Georg von Gisycky kein Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) war, sympathisierte er mit deren Politik. Unter dem Einfluss ihres Gatten, mit dem sie eine Arbeitsehe führte, engagierte sich Lily in der bürgerlichen Frauenbewegung. Bald interessierte sie sich außerdem für die Lebensbedingungen der Arbeiter und vor allem der Arbeiterinnen. Nachdem Gisycki 1895 an Influenza starb, war sie weitgehend auf sich allein gestellt.
Durch Kontakte mit Vertreterinnen der proletarischen Frauenbewegung und durch die Bekanntschaft mit dem Sozialpolitiker Heinrich Braun (18541927) trat Lily in die SPD ein und engagierte sich politisch. Mit diesem Schritt setzte sie sich zwischen alle Stühle: Ihre Familie distanzierte sich von ihr und enterbte sie, und in der SPD begegnete man ihr wegen ihrer gutbürgerlichen Herkunft mit großem Misstrauen.
Nachdem Lily von Gyscky versuchte, die bürgerliche und die proletarische Frauenbewegung zusammenzuführen, geriet sie mit der damals führenden Frauenpolitikerin der SPD, Clara Zetkin (18571933), in Konflikt. Sie wurde in der Partei zunehmend ausgegrenzt und verlor ihre bisherigen Einflussmöglichkeiten.
Als Lily von Gysycki 1896 den zwei Mal geschiedenen Politiker und Begründer des Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik, Heinrich Braun, heiratete, löste sie in der SPD einen Skandal aus. Der SPD-Vorsitzende August Bebel (18401913) schrieb in einem Brief an sie, das Verhältnis zwischen ihr und Heinrich Braun habe natürlich gewaltig Staub aufgewirbelt und die männlichen und weiblichen Philister in Erregung versetzt.
Im Jahr nach der Heirat brachte Lily ihren Sohn Otto (18971918) zur Welt.
Im so genannten Revisionsstreit stellten sich Heinrich und Lily Braun auf die Seite des SPD-Politikers Eduard Bernstein (18501932). Dies verschärfte die innerparteiliche Situation vor allem nach dem Dresdener Parteitag 1903, wo der revisionistische Flügel eine empfindliche Niederlage in der innerparteilichen Auseinandersetzung erlitt.
Als Lily Brauns zentrales Werk gilt ihre durch empirische Daten gestützte Studie Die Frauenfrage Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre wirtschaftliche Seite (1901). Die Autorin war wohl eine der ersten überhaupt, die das Geschlechterverhältnis in Prozentzahlen ausdrückte. Sie verfasste auch zahlreiche Artikel für die Ethische Zeitschrift und die Gleichheit sowie Kommentare und Berichte für sozialdemokratische Tageszeitungen.
Dank der Zeitungshonorare konnte Lily Braun die zeitweise sehr prekäre finanzielle Lage ihrer Familie lindern. Die von Heinrich Braun gegründete Zeitschrift Neue Gesellschaft scheiterte schon nach der zweiten Ausgabe. Aus finanziellen Motiven entstanden Lily Brauns kitschige Romane Im Schatten des Titanen (1908), Die Liebesbriefe der Marquise (1912), Mutter Maria (1913) und Die Lebenssucher (1915), die innere Konflikte von Frauenfiguren behandeln.
In ihrer zweibändigen Autobiographie Memoiren einer Sozialistin (1909 und 1911) schilderte Lily Braun ihren Lebensweg sowie die damit verbundenen Ent- und Verwicklungen. Obwohl sie die Personen darin anders nannte, wurde Eingeweihten bald klar, dass es sich bei der häufig kritisierten Wanda Orbin um Clara Zetkin handelte.
Auf politische Konflikte und die damit verbundenen Anfeindungen, die sie durch ihr eigenes zeitweise kompromissloses Verhalten nicht gerade abmilderte, reagierte Lily Braun ausgesprochen empfindlich. Ab 1910 verschlechterte sich ihr gesundheitlicher Zustand zusehends.
In ihrem Werk Die Frauen und der Krieg (1915) äußerte sich Lily Braun euphorisch über den Ersten Weltkrieg und forderte die Frauen zur Mutterschaft auf, damit für jede Hand, die sich jetzt sterbend um die Waffen klammere andere Hände geschaffen würden. Außerdem kämpfte sie für das Dienstjahr der Frau in der Kranken- und Säuglingspflege.
1915 schrieb Lily Braun an ihren Sohn Otto Braun, es sei nun einmal ihre Art, nur im Fieber etwas leisten zu können, sie brauche Besessenheit. Am 8. August 1916 starb sie im Alter von nur 51 Jahren in Berlin-Zehlendorf.
Julie Braun-Vogelstein (18831971), die zweite Frau von Heinrich Braun, veröffentlichte die Aufzeichnungen von Lilys Sohn Otto unter dem Titel Aus nachgelassenen Schriften eines Frühvollendeten (1919) und die Biographie Lily Braun. Ein Lebensbild (1922).
Diese Biografie stammt aus der Taschenbuchreihe „Superfrauen“ des Verlags Ernst Probst (www.frauenbiografien.de.vu).